Merk-würdige Dichtung
Bereits die verschiedenen Bezeichnungen in den Handschriften weisen auf Form und Intention des Memoriale hin. So nennt Schlitpacher selbst seine Dichtungen im Melker Codex 662 „Abbreviatio vitae sancti Benedicti excerpta ex secundo dialogorum metrice“ (fol. 139r) bzw. „Aliter et brevius vita sancti Benedicti metrice. Versibus hiis sancti recolas vitam Benedicti“ (fol. 140v). Es handelt sich um eine in Versen abgefasste Kurzfassung der Biographie des heiligen Benedikts auf der Grundlage der Lebensbeschreibung von Gregor dem Großen, um das Leben des Heiligen im Gedächtnis zu behalten. Die Form der Dichtung spielt dabei eine besondere Rolle. Denn das Memoriale gehört in die Gruppe der Merkdichtung.
Die Dichtung gilt als „Instrumentarium (…), das es erlaubt, Taten und Leistungen der Vorfahren, Lebensweisheiten und Formen des religiösen Werltverständnisses mittels ästhetischer Strukturierung im kulturellen Gedächtnis aufzubewahren“.1 Eine im Spätmittelalter bekannte Zusammenfassung fasst die Vorteile von Dichtung wie folgt zusammen:
Metra iuvant animos, comprendunt plurima paucis. Pristina commemorant et sunt ea grata legenti.
Nota: metrum valet ad tria, scilicet ad delectationem, ad memoriam firmiorem et ad brevitatem.
Florilegium Treverense, zitiert nach D. Klein2
Die Verse erfreuen in ihrer ästhetischen Form den Leser und regen so zur wiederholten Beschäftigung mit dem Inhalt an. Weiter fordert prosodische Sprache Kürze und Prägnanz, die angesichts umfangreicher Sachverhalte hilfreich sind in Bezug auf die Intention als Merk-Dichtung. Zudem lassen sich Verse durch ihre rhytmische Struktur leichter dem Gedächtnis einprägen als ungebundene Sprache.
Vor allem im Bildungsbetrieb wird die mnemotechnische Funktion von Dichtung genutzt, um verschiedenste Inhalte zu vermitteln. Diese besondere Form der Dichtung wird als Merkdichtung bezeichnet, mit der das Einprägen von umfangreichem und kompexlem Wissen erleichtert wird. Sie wird in allen Disziplinen verwendet, in welchen es um Unterricht und Stoffvermittlung geht. In der Theologie entstehen so die Bibelmemoriale, deren Verse eine „Orientierung über den Inhalt der einzelnen Bücher ermöglichen“3. Eines der bekanntesten Beispiele für den Typ des Bibelmemoriale hat im frühen 15. Jahrhundert Petrus von Rosenheim verfasst. Petrus war ebenfalls Reformer aus dem Melker Reformkreis. Intention und Form eines Memoriale werden aus dem Prolog seines Roseum memoriale divinorum eloquiorum deutlich. Auch Johannes Schlitpacher hat noch weitere Memoriale verafasst. Hierzu gehören zwei unterschiedlich lange Memoriale librorum sentenciarum über die Sentenzen des Petrus Lombardus sowie zwei Memoriale metricum super Regula Benedicti (latius und brevius).
In vorliegendem Memoriale von Johannes Schlitpacher soll das Leben des heiligen Benedikt nach der Überlieferung des Kirchenvaters Gregor dem Großen dem Leser bzw. Hörer anschaulich und einprägsam vermittelt werden. Dazu wird im Memoriale latius pro Vers ein Kapitel oder eine Epsiode aus der Benediktsvita dargestellt. Im Memoriale brevius wird der Inhalt eines Gregor-Kapitels auf im Schnitt etwa einen halben Vers gekürzt, während im Memoriale brevissimum nur noch aussagekräfte Schlagwörter für eine Lebensepisode des Heiligen stehen. Dabei bleibt der Text in sich zwar noch schlüssig und richtig, eine anschauliche Lebensbeschreibung bietet diese sehr gekürzte Darstellung nicht mehr. Vielmehr ergibt sich ihre Intention erst im Zusammenwirken mit den anderen beiden Fassungen. Während sich der Rezipient beim Memoriale latius noch 68 Verse merken muss, um sich jederzeit z.B. zu meditativen Zwecken das Leben des Ordensgründers in Erinnerung zu rufen, kann er zunächst eine gekürzte Fassung in 31 Versen heranziehen, bis schließlich der Geübte auf die nur noch 18 Verse umfassende Version zurückgreifen kann. Diese Herangehensweise lässt sich pausibel für den monastischen Lehrbetrieb annehmen, in dem Johannes Schlitpacher wie bereits erwähnt eine bedeutende Rolle spielte.
1. Ernst, Ulrich, Ars memorativa und Ars poetica in Mittelalter und Früher Neuzeit, in: Berns, Jörg Jochen/Neuber, Wolfgang (Hgg.), Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400-1750, Tübingen 1993, S. 73-100, S. 73. ↩
2. Klein, Dorothea, Ad memoriam firmiorem. Merkverse in lateinisch-deutscher Lexikographie des späteren Mittelalters, in: Überlieferungsgeschichtliche Editionen und Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. Kurt Ruh zum 75. Geburtstag, hg. von Konrad Kunze, Johannes G. Mayer und Bernhard Schnell, Tübingen 1989, 131 – 153, S. 173 ↩
3. Holtdorf, Arne, Art. Merkdichtung, Historisches Wörterbuch der Rhetorik 5 (2001), Sp. 1078–1081.↩